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Die Wahrnehmungsmaschinen

… oder Den Gorilla von der Kette lassen oder Die Lichtquelle bin ich oder alle Buchstaben durchsezieren oder in sich selbst versinken oder …

Die Brüder Poschauko machen aus einer einzigen schlichten Schablonenform Kampfkunstpiktogramme, sehen in einem Straßenpfeiler Picasso, lassen Fadenschrift zur Harfe – wahlweise zur flackernden Digitallampe – mutieren, und finden das Meer auf dem Futtersilo des Nachbarn.

Wie gelingt so etwas? Thomas und Martin Poschauko präsentieren ihr Buch „NEA MACHINA“ als „Kreativmaschine“, die „Kopf – Bauch – Hand – Computer“ verbindet. Ihre Ausgangsideen verfolgen sie mit geradezu besessenem Fleiß, gehen an Grenzen und darüber hinaus, bearbeiten Zwischenschritte immer und immer wieder hartnäckig weiter, wechseln dabei die Werkzeuge nach Lust, Laune, Tagesform und vom Zufall getrieben – und, das ist die Basis, verlassen sich dabei immer auf die eigene Intuition. Manchmal auch mit auf die des Zwillingsbruders, das sei das Gute, sagt einer der beiden, dass da noch einer ist bei dem man sich vergewissern kann – zum Beispiel, dass da auch wirklich der Picasso im Straßenpfeiler sitzt. Um dann jedes Mal langsam den Blick zu wenden, wenn man daran vorbeifährt (man stelle sich die simultane Kopfbewegung in Zeitlupe bildlich vor), wie schon seit 20 Jahren. Jetzt aber stets mit einem mehr oder minder unterdrückten Kichern.

Kurz: Die Zwillinge Poschauko sind Wahrnehmungsmaschinen. Und fleißige Arbeiter.

Die gestandenen bayerischen Mannsbilder kommen im blondgelockten Doppelpack daher und könnten ungeschminkt in jedem Heimatfilm auftreten. Als Klempner, Bauhandwerker, Schreiner oder Landschaftsgärtner würden sie ad hoc überzeugen. Und genau das alles sind sie auch, auf ihre Art.

Ihr Atelier, ein umgebautes Dorfkino aus den 1930er Jahren in ihrem Heimatort Au bei Bad Aibling, liegt idyllisch am Fuße der Berge („zwischen Berlin und Mailand“). Gemütliches Chaos zwischen alten Projektoren, Secondhand-Sesseln und flackerndem Ofen bildet den richtigen Rahmen für ihre kreativen (exzessiven) Prozesse.

Diesen Kreativprozess analysieren und demonstrieren die beiden sorgfältig in ihrem Buch. NEA MACHINA, entstanden als Diplomarbeit an der FH Würzburg, ist theoretisch wie praktisch ein unerschöpflicher Fundus. Das 408 Seiten starke Werk wurde ausgezeichnet mit dem red dot award „best of the best“, dem Lucky Strike Junior Designer Award, Joseph Binder Award „Gold“, sogar dem Bayerischen Staatspreis – und aus berufenem Munde gelobt: „Die Intensität dieser beiden Gestalter ist ganz außergewöhnlich. Sie liefern einen wichtigen Impuls für diese Generation“, so Kurt Weidemann (R.I.P.), um ihn stellvertretend für viele zu nennen.

Dass Intensität – Intensität überhaupt und hier in der kreativen Vorgehensweise und deren Resultaten – übrigens nichts mit Lautheit, urbanem Lebensstil oder Designerlifestylekreativklischees zu tun hat, zeigen die Zwillinge Poschauko in besonderer Weise. Sie strahlen Würde und Ernsthaftigkeit aus.

Der „Piratensound“ von The Instant Voodoo Kit, der Band ihres Praktikanten, die ihr Programm darin sieht, „musikalische Schablonen liebevoll zu erstellen, nur um sie im nächsten Moment wieder zu zerreißen“ (!), liefert die passende Untermalung: In einem rasant geschnittenen Fünf-Minuten-Film zeigen Thomas und Martin Poschauko mitreißende Gestaltungsserien, die uns geradezu überfluten. Manuelle Elemente werden digital kombiniert und weiterbearbeitet, umgekehrt können digitale Zwischenschritte Auslöser und Ausgangspunkt für manuelles Weitermachen sein. Dabei führen Pfeile und Verknüpfungen wie eine Art Reisebericht von einer Umsetzung zur nächsten, verweisen quer, illustrieren die handwerklichen Techniken.

Wie „diesen Arbeitswahnsinn“ beschreiben?

Bestimmte Grundformen werden endlos variiert; die Übergänge und Wechsel sind in ihrer Vielfalt und Fülle auf die Schnelle kaum nachvollziehbar. „NEA MACHINA jagt par force durch Stile, Techniken, Epochen und zeigt dabei deutlich den Unterschied zwischen flachem Stilzitat und gekonnter Weiterentwicklung“ (HD Schellnack, FORM). Hier ein paar Teilbeschreibungen in Schlüsselwörtern, Assoziationen und Zitaten zu einzelnen Werkphasen von NEA MACHINA:

  • Der traurige Clown: Portrait, Phantombild, „Elemente zufügen“, Zufälle einbeziehen, Linolschnitt, Mausgekrakel, 70er-Jahre-Kochbuchbilder als Scans, Tusche, Raster, über 300 Ebenen.
  • Der Schriftzug NEA MACHINA als typografische Serie: schwarze und weiße Rauten, Fadenstruktur, in Bewegung versetzt, Harfe oder Digitallampe, hochgestellte Papierstreifen, darauf Schatten werfen, mit Lampe umkreisen, „die Lichtquelle bin ich“, der Körper kommt mit der Schrift in Kontakt, einscannen, Assoziation kalligrafische Breitfeder, Font daraus machen, „Zeichnen mit schwarzer Tusche auf weißes Papier ist das Wegnehmen von Licht“ (Adrian Frutiger).
  • Das Meer hinter unserem Haus: Plane auf dem Futtersilo des Nachbarbauern ist schlecht befestigt und flattert im Wind, das Geräusch gefunden, das Knattern und Rauschen, die Folie sieht im Film aus wie Meereswellen, mit Meeresrauschen, Staunen, „in sich selbst versinken“, über den Horizont hinausschauen.
  • Verwitterter Stapel Dachziegel, abstrahiert als digitale Skizze, wird durch Ölmalerei zu van Gogh, Wahrnehmung visualisieren, macht uns „sensibel für visuelle Rhythmen“, der Wahrnehmung noch weiter nachzugehen führt zu einem Landschaftsbild in Öl mit Mensch auf Berg.
  • Ein Gesichtsumrissmodell aus schwarz-roten Pappstreifen mit der Hand verformen, Assoziationen von Comic über Kinderbuch zu Picasso, von da aus durchgezeichnet, Bleistift ist zart und kann brechen, Ölkreide ist dick und ölig, ist anders, während eine virtuelle Stahlfeder sich genauso anfühlt wie ein virtueller Malpinsel, bzw. sich gar nicht anfühlt. „Das Machen macht was mit dem Denken“, bringt uns zum Denken (nach Otl Aicher), bringt die Poschaukos dazu, überall plötzlich Picassos zu sehen, am klarsten in einem Straßenpfeiler, „ich lerne meine Umgebung auszulesen“, das ist ernst, „auch die Komik und das Lachen bringt uns Picasso näher“.
  • Halbrunde Schablonenform, unendlich oft gezeichnet zu unendlich viel verschieden mal N, dann ALLE Buchstaben „durchseziert“: vier Monate Arbeit. Daraus werden mit einem roten, dann schwarzen Gelenkpunkt menschliche Formen, die an Sport-Piktogramme erinnern („oder an etwas anderes, über das wir jetzt nicht sprechen“). Die Piktogramme via Überdrucken in eine Massenkampfszene verfeindeter bayerischer Dörfer verwandeln, die Einzelformen wieder voneinander lösen und zu einer Traube zusammensetzen, die an einen Obstkorb erinnert und flugs zum Bio-Logo wird.
  • Aus Tuscheskizze-Gesicht wird durch die Funktion „Pfadpunkte vereinfachen“ in Illustrator eine „vermummte Frau mit Papagei in der Sonne“ – und daraus ein großformatiger Holzschnitt, der einem Poschauko-Zwilling Rückenweh und das glücklich-erschöpfte Gefühl bereitet, an diesem Tag wirklich etwas geschafft zu haben. Doch damit nicht zu Ende: in den Holzschnittdrucken erkennen die Poschaukos einen Mann mit Maske, Dracula (mit Mond), einen feinen Herrn im Smoking (mit Einstecktuch), einen kauernden Einsamen im Stil von Max Beckmann, …

und so geht es immer weiter.

Mit Sicherheit.

Mit NEA MACHINA zeigen Thomas und Martin Poschauko, wie wichtig und schön und lohnend es ist, die Welt zu betrachten in dem sicheren Wissen, „da ist das drin was ich brauche“.

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Finden kann ich es dann, wenn die IDEE = Kopf (Konzept) + Bauch (Intuition, Spiel) und das WERKZEUG = Hand (Material, Mal- und Zeichentechniken) + Computer ZUSAMMEN machen (dürfen, können). Das Problem heute: Wir arbeiten zu viel und zu oft und oft ausschließlich nur mit Kopf und Computer.

Die Abschlussskizzen sind ganz einfach: Mensch mit ein paar Pfeilen, Blickrichtungen oder möglichen Bewegungen (nach draußen, zu anderen hin); Gorilla sitzt mit dicker Kette gefesselt am Computer. „Das Spezialwerkzeug eigene Hand ist uns ganz wichtig“ – hier sehen wir es gebannt, gebannt.

Also, Leute: weg vom Computer. Wenigstens ab und zu mal. Hinaus in die Landschaft. Bewegt euch! Lasst den Gorilla von der Kette.

Wir sagen zum Abschied leise Servus und verlassen den Saal in der fröhlichen Gewissheit: Hinter dem Haus der Poschaukos geht’s weiter.

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PS

Hier eine Kurzübersicht zum Buch NEA MACHINA und die Website der Brüder Poschauko. Ihre quasi hauseigene Band The Instant Voodoo Kit belegten 2010 den ersten Platz des Sparda Nachwuchspreises beim 7. Internationalen Straßenmusikfestival in Würzburg und 2011 den ersten Platz beim Kulmbacher Bandcontest auf dem 8. Outerlimits-Festival in Hofheim. Sie suchen Auftrittsmöglichkeiten.

 

Erstmals veröffentlicht am 21. Mai 2011 auf dem Blog der TYPO Berlin, hier minimal redigiert. Fotos von Gerhard Kassner – vielen Dank.

Mit diesem Text fing alles an. Okay, nicht alles, aber mein Schreiben über Buchstaben, Schrift und Sprache, Gestaltung und Gestalter – für die TYPO Berlin, eine Auswahl finden Sie auf meiner Website.

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