TXET

Auf Du und Du mit der Bandzugfeder

Über die allmähliche Verlangsamung der Zeit beim Schreiben mit klassischem Werkzeug. Und wunderschöne neue Vokabeln.

Werkstattatmosphäre im TYPO-Nest (2011, aber das ist eigentlich egal): Statt Konferenzbestuhlung erwarten uns große Schreibtische, bestückt mit Papierbögen, Federsortimenten, Tintenfässern und Tupfern auf jedem Platz. Wir krempeln schon mal die Ärmel hoch. Bevor es jedoch zum „vergnüglichen Ausprobieren verschiedener Schreibwerkzeuge“ kommt, lernen wir die Grundlagen der Schreibkunst kennen.

Der „Kalligrafie-Workshop“ von Andreas Frohloff beginnt mit Basiswissen zu Federsorten: Bandzugfedern, auch Breitfedern oder Wechselzugfedern genannt, erzeugen als Schreibspur einen Wechselzug (dicke und dünne Strichstärken wechseln richtungsabhängig). Schnurzugfedern sind vorne spitz und machen – na? – einen Schnurzug. Copperplate-Federn heißen auch Spitzfedern oder Schwellzugfedern. Sie wiederum erlauben durch wechselnden Druck ein Schriftbild mit an- und abschwellender Linienstärke, den so genannten Schwellzug. Spitzfedern wurden traditionell für die Englische Schreibschrift benutzt; in Deutschland prägte die Schwellzugfeder über Jahrhunderte die deutsche Kurrentschrift, weil man damit flüssig und schnell schreiben konnte.

Doch hier geht erst einmal gar nichts schnell.

In aller Gelassenheit eröffnet Andreas Frohloff uns die Welt der Handschrift. Der ausgebildete Schrift- und Grafikmaler weiß, wovon er spricht. Er ist Leiter des Type Department bei FontShop International, hat ein kombiniertes Spezialstudium in Schrift und Pädagogik absolviert, unterrichtet an Schulen und gibt seit mehreren Jahren die begehrten Kalligrafie-Workshops auf der TYPO.

Zeit für ein bisschen Geschichte: Schon 1748 erfindet Johannes Janssen in Aachen die Stahlschreibfeder, meldet sie ungeschickterweise nicht zum Patent an und findet keinen Produzenten. Das übernimmt erfolgreich 1827 Joseph Gillot in Birmingham. Bis heute gelten Gillot-Federn (oder die von William Mitchell, so Frohloff) als die besten der Welt.

Wir kommen langsam zur Ruhe.

Was für schöne Wörter.

Wörter wie Eisengallustinte.

Ein Teufelszeug allerdings. Eisengallustinte ist nach dem Trocknen wasserfest und dokumentenecht, macht aber Tintenfraß. Der zerstört alte Manuskripte, zum Beispiel Original-Partituren von Bach: Die Tinte rostet im Papier, bildet Bröckchen und fällt einfach schwer aus dem Blatt heraus, so geschehen mit Bach-Noten. Die Restauration ist extrem teuer und aufwendig, der Tintenfraß daher sehr gefürchtet.

Eisengallustinte für die Ewigkeit.

Nächste Frage, in großer Gemütsruhe vorgetragen: Welche Tinte schreibt deckend? Richtig: Scribtol, Kunstschrifttusche, zum Beispiel der Klassiker von Pelikan. Tusche hat mehr Pigmente als Tinte. Was sind eigentlich Pigmente? Die Farbe an sich, klar. Genauer: der Tinte oder Tusche kleinste Teile und selbst unlöslich. Schwarzes Pigment ist nichts anderes als Ruß, weil es das schwärzeste Schwarz erzeugt.

Gummi Arabicum (Frohloff hat Gum Arabic von Winsor & Newton dabei) ist der Saft der tropischen Akazie; er funktioniert als Leim und als Bindemittel. Ochsengalle ist ein „natürliches Netzmittel, gereinigt“ – wie es auf dem Fläschchen von Schmincke heißt. Ochsengalle macht Flüssigkeiten flüssiger, nimmt Oberflächen die Spannung (vgl. Tropfen auf Glasplatte) und dient auch zum Entfetten von Schreiboberflächen.

Jetzt Papier, endlich, zum Anfassen: Pergament, chinesisches Reispapier und Papyrus. Pergament ist speziell aufbereitete Tierhaut, vornehmlich Ziege. Okay. Wir machen ja auch Kleidung daraus, wieso also nicht darauf schreiben … Schweinehaut übrigens geht nicht, und zwar wegen? Der Borsten. Die sind zu hart, würden im Papier verbleiben und den Schreibfluss erheblich beeinträchtigen. Hingegen eignen sich Schweineborsten hervorragend als Material für allerfeinste Malpinsel.

Wir nähern uns dem Füller.

Der Füllerfederhalter wurde 1884 vom Versicherungsmakler Lewis Edson Waterman in New York erfunden, denn: Er wollte keine Kunden mehr verlieren, nur weil er Schriftstücke nicht schnell genug fertigstellen konnte oder beim Unterschreiben einen riesigen Tintenfleck auf dem Vertrag verursachte, wodurch ihm das Geschäft durch die Lappen ging. Seine eigentliche Erfindung war ein Druckausgleichsbehälter (Tinte raus, Luft rein). Waterman brachte den „Fountain Pen“ zur Industriereife und gründete die Waterman Pen Company.

Zum Füllfederhalter gab es alsbald industriell gefertigte Bandzugfedern, die breite Verwendung fanden. Andreas Frohloff zeigt uns außerdem Glasfedern (die allerdings sehr unpraktisch sind), Notenziehfedern (um Partituren zu notieren), und bis zu 5 cm breite Plakatzugfedern für ganz dicke Buchstaben, die ganz viel Tinte brauchen. Frohloff auf die Frage, wie viel man damit am Stück schreiben könne: „na ja… man kommt schon einen Buchstaben weit“…

Ab 1815 trat der „Automatic Pen“ in England seinen Siegeszug an, so genannt, weil die Bandzugfeder wie automatisch schrieb, der spezifische Strichstärkenwechsel automatisch beim Schreiben entstand – eine große Erleichterung gegenüber den Spitzfedern, die wechselnden Druck beim Schreiben erfordern.

Und noch ein unglaubliches Wort: Börsenzackkugelspitzfeder.

Ja, Börsen-zack-kugel-spitz-feder.

Die Börsenzackkugelspitzfeder oder der Einfachheit halber „nur“ Kugelspitzfeder (auch Linienzugfeder oder Gleichzugfeder genannt) wurde von Friedrich Soennecken erfunden und ermöglichte das Schreiben in gleicher Strichbreite, um die bis heute üblichen Ausgangsschriften zu lernen: Schriften, die robust gegenüber unterschiedlichen Haltungen der Feder und daher für Schreibanfänger leicht sind. Die Kugelspitzfeder heißt so, weil sie einen kugeligen Kopf (eine kleine Kugel an der Federspitze) hat. Diese Art Schreibfedern kam Anfang des 20. Jahrhunderts immer mehr in Gebrauch, teilweise auch schon in Schulen. Die Sütterlinschrift wurde vor allem mit der Ly-Feder, einer speziellen Breitfeder (zum Tauchen) mit sehr schmaler Kante geschrieben. In den 20er Jahren gab es zudem Glasröhrchen (als Halter) mit auswechselbaren Glasfedern vorne dran. Für besondere Anlässe bzw. besondere Schräglagen kommt die Kniefeder zum Einsatz, die an einen dicken, abgeknickten Blitz erinnert (im Bild, untere Reihe, die achte von rechts).

Ein Teil von Frohloffs Federsammlung.

Und was haben wir an unseren Plätzen liegen? Andreas Frohloff hat für seine Schreibschützlinge im TYPO-Nest je drei Bandzugfedern vorbereitet, eine davon mit selbstgebastelter Unterfeder – das ist das Tintenreservoir unter der eigentlichen Schreibfeder, im Handel so nicht mehr erhältlich. Er zeigt uns, wie man mit einer Pipette tröpfchenweise Schreibflüssigkeit in die Unterfeder einträufelt.

Noch ein paar wertvolle Tipps: immer säurefreies Papier verwenden wie den Kalligrafie-Block von Brause, aus dem wir uns bedienen dürfen (nachdem wir erst mal auf Kopierpapier geübt haben), immer die ideale Federhaltung im 45-Grad-Winkel anstreben, und erst mal „unverbunden schreiben“ – das sei leichter als verbundene Buchstaben, da wiederum „kann man schon mal vom Wege abkommen“. Weitere wichtige Ansagen, bevor wir die Übungsbögen und Schriftmuster bekommen: Wendungen und Schlaufen sollen wir eng schreiben, und „Oberlängen werden spitz angeschrieben.“

Schreiben erfordert ganzen Körpereinsatz.

Falls uns in freier Wildbahn der Schreibdrang befällt und wir keinen Füller, aber Gänse und damit Gänsefeder zur Hand haben: einen „Öffnungsschnitt“ am Gänsekiel machen und die Feder in warmem Wasser einweichen lassen, feinen Sand auf 135 Grad erhitzen, die Feder darin eintauchen – dann ist sie gehärtet und man kann sie in Form schnitzen. Wohl dem, der bei den Pfadfindern war.

Andreas Frohloff zeigt uns sehr funktionale selbst geschnitzte Beispiele und spätestens jetzt ist klar: Ein Kalligraph bastelt sich sein Werkzeug im Zweifelsfall selbst. Gekaufte Luxusobjekte wie die manieriert-monströse, weinrot gefärbte Gänsefeder im ziseliert-silbernem Standstiefelchen („am Rande der Perversität“) kann man sich allenfalls mäßig dekorativ auf den Schreibtisch stellen.

Der Schreibexperte reicht Naturpapiere herum, die mit ihrer sicht- und fühlbar unterschiedlichen „Sieb- und Filzseite“ als unbehandelt identifizierbar sind. Wasserzeichen übrigens entstehen so, dass der Papierhersteller die jeweilige Form aus Draht auf das Schöpfsieb auflötet, so dass das geschöpfte Papier an diesen Stellen dünner und durchscheinender wird.

Wir bekommen Schelllacktinte, satt dunkelbraune Kaffeetinte, Rosen- und Rotweintinte zu sehen und zu riechen. An unseren Plätzen finden wir je eine Farbtinte zum Üben. Mein Tintenfläschchen ist leuchtend gelb. Gelb!

Einträufeln der Tinte (links) und Einüben der Federhaltung (rechts).

Ich äuge nach links und rechts zu diversen Sitznachbarn, die in Tiefschwarz, Dunkelblau, leuchtendem Grün erste Striche auf das Papier setzen. Wie vertieft sie schon sind. Ich freunde mich mit meinem Gelb an: erst mal ein paar Fingertupfer aufs Papier. Vorsichtig. Riecht gut, fühlt sich gut an. Noch ein Tupfer, weich verstreichen, oh, schön! Viel schöner als Schwarzdunkel. Mehr Gelb! Ich will plötzlich ganz viel Gelb, dickes Gelb, breites Gelb, und greife zum Balsaholzspatel, der neben den Federn liegt. Das helle tropische Holz ist extrem feinporig, ganz luftig-leicht und dabei bruchsicher (daher bevorzugt im Einsatz für Modellflugzeuge). Fühlt sich schon in der Hand super an, der weiche Spatel. Ich schreibe meinen Namen in goldgelben Schwüngen und bin glücklich.

Gelb ist das neue Schwarz.

Und gleich noch mal, und noch mal größer, soll ich etwa noch was anderes machen? Keine Lust auf kleine Federn. Weiches Gelb muss bleiben, also fange ich an, damit Buchstaben nach Vorlage zu zeichnen. Geht auch wunderbar.

Eine Frage in verschlepptem Wienerisch hinter mir reißt mich aus der Versenkung: „Was macht man da, wenn man mal zum Beispiel hier mal so raufgeht?“ und die trockene Frohloff’sche Antwort: „Da geht man nicht rauf“. Geduldig zeigt er, wie man diesen Buchstaben schreibt, oder jenen, oder vielmehr: ihn zieht. Wir ziehen unsere Bahnen. Er beantwortet gemächlich die nächsten Fragen (wie ein leicht panisches: „Ich soll von da oben runter, ja?“), beruhigt uns („Nun, das ist ein bisschen ruppig, das Papier“), wandert von einem zum anderen durch die mucksmäuschenstillen Sitzreihen, hilft weiter: „Da muss man locker lassen“. Es ist nichts zu hören als ein leises Kratzen hier und da, angehaltener Atem, kleine unterdrückte Flüche.

Gegen das viel zu frühe Ende des Workshops hin zeigt uns Andreas Frohloff einen grandiosen Animationsfilm: Zu den Klängen von Pink Floyds „We don’t need no education“ (daraus „der böse Teil“) sehen wir eine riesige silbrige Schreibfeder raumschiffartig über einen Bogen Papier schweben. Eine Unterfeder nähert sich gravitätisch, dann kommt – „Achtung, jetzt“ – der spannende Moment, wo sich die Unterfeder mit der Feder vereinigt. Vereint stürzt das Doppelraumschiff („was man nicht tun sollte“) ins offene Tintenfass. Puh.

Danke, lieber Andreas, für diesen schönen „Shift“ ins Handwerkliche, für zwei meditative Stunden jenseits des Konferenzgeschehens … und doch mittendrin!

Andreas Frohloff macht das TYPO-Nest zur Schreibstube.

PS

Für alle, die Tinte geleckt haben:

Seht euch die Sachen an von Hermann Zapf (* 8. November 1918 in Nürnberg). Der Kalligraph, Schriftdesigner, Typograph und Buchgestalter war künstlerischer Leiter der Schriftgießerei D. Stempel AG in Frankfurt am Mai (1947–1956), arbeitete am Carnegie Institute of Technology in Pittsburgh/Pennsylvania, als Professor for Typographic Computer Programs am Institute of Technology in Rochester, New York, ab 1985 als Honorary Royal Designer for Industry of the Royal Society of Arts, London. Wir alle kennen seine Zapf Dingbats, die er 1978 für ITC entwarf (1950 Palatino, 1958 Optima, 1979 ITC Zapf Chancery).

Neben anderen Auszeichnungen erhielt Hermann Zapf 2003 den Typography Award der „Society of Typographic Aficionados“ in Chicago und 2010 das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse. Seine kalligrafischen Arbeiten sind gut dokumentiert im Katalog zur Ausstellung „Meister der Schrift“ der Stadtbibliothek Nürnberg 2002/2003 (ISBN 3-9808474-0-3) und im Buch zur „Sammlung Hermann Zapf“ der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel.

Wer noch weiter zurückgehen und tiefer eintauchen möchte in eine an Wahnwitz grenzende Handschriftkunst (haben die Drogen genommen oder reichte dafür das fränkische Bier?), dem seien die Nürnberger Schreibmeister um Johann Neudörffer den Älteren (1497–1563) ans Herz gelegt. Er beeinflusste die Entwicklung der Kalligrafie im deutschen Sprachraum maßgeblich. Gut dokumentiert von Oliver Linke und Christine Sauer: Zierlich schreiben. Der Schreibmeister Johann Neudörffer d. Ä. und seine Nachfolger in Nürnberg. Hrsg. von der Stadtbibliothek Nürnberg und der Typographischen Gesellschaft München (Beiträge zur Geschichte und Kultur der Stadt Nürnberg, 25), Nürnberg/München 2007 (ISBN 978-3-9808474-6-9).

Im Rahmen des Leitthemas „Welt aus Schrift“ 2010/2011 am Kulturforum Berlin widmete sich das Kupferstichkabinett der Historie des Phänomens „Schrift als Bild“. Im Zentrum standen die piktografischen Wurzeln von Schriftgestaltung in der deutschen Kunstgeschichte und die vielfältigen Text-Bild-Verschränkungen: Zierinitialen und Inhaltsschriften, Figuren-, Pflanzen- und andere Themenalphabete, Urkunden, Lehrmittel, Labyrinth- und Netzgedichte weisen den Weg in die Neuzeit und faszinieren nicht nur mit ihrem formalen Reichtum, sondern mit vielschichtigen ästhetischen, zeitgenössisch-modischen und/oder politischen Botschaften – mit ihrer großen künstlerischen Autonomie.

Das Buch dazu: Schrift als Bild, Hrsg. v. Michael Roth Imhof, Petersberg 2010, gebunden, 199 S., 315 farbige Abb., Deutsch (ISBN-10: 3865686206). Momentan vergriffen, erhältlich evtl. über das ZVAB.

 

Erstmals veröffentlicht auf dem Blog der TYPO Berlin am 29. Mai 2011 – für die Fotos vielen Dank an Clemens Carlstedt, der mitgemacht und mir spontan geholfen hatte (nur das gelbe Sonja-Bild habe ich selbst fotografiert).

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