TXET

Text, Sex, Scheiße

Wie umgehen mit Wörtern? Welche Macht haben sie in unserem Leben, welche Möglichkeiten wir? Drei Thesen über Text.

(Find a shorter English version of this essay here.)

Sex. Sex, Sex, Sex, Sex, Sex. Sex ist überall und nirgends. Sex schwingt mit und drängt sich auf. Sex nervt. Es gibt Wörter, die sind ständig da. Die machen Bilder im Kopf, die machen wohlige Gefühle – oder Beklemmungen. Welches Wort könnte das besser illustrieren als Sex? Wer denkt dabei an nichts?

Kleine Übung: dreimal schnell hintereinander Sex sagen. Laut. Lust auf mehr? Je länger, je lieber. Laut, leise, schneller, langsam. Sex, Sex, Sex, Seeeeex… einfach mal auf der Zunge zergehen lassen. Mir macht das ziemlich gute Laune: der Klang, die optische Anmutung, ich sehe Sex sofort vor mir. Groß. Ein schön geschwungenes S, ein gut gebautes, breitbeiniges x. In einer passenden Farbe, rosa natürlich, ins Pinke sich steigernd, und in einer passend wollüstigen Schrift. Mich stimmt das fröhlich. Sex!

These 1: Die besten Bilder entstehen im Kopf. Durch Wörter.

Jedem Menschen geht es anders, mit Wörtern, mit Bildern, mit Begegnung. Beim Wort Sex oder auch nur bei der Andeutung von Sex mag der eine sich entspannen, besonders offen und aufmerksam werden, erwartungsfroh, während andere am liebsten die Flucht ergreifen würden. Es kommt so sehr auf den einzelnen Menschen an. Oder vielmehr, die jeweiligen Menschen, ihre Rollen, die Situation, den jeweiligen Kontext. Oder Subtext. Es kommt darauf an, wie sicher und souverän oder wie ausgesetzt wir uns fühlen: diesem Wort gegenüber, unserem Gegenüber gegenüber. Insbesondere gilt das für Wörter und Sachverhalte, die ein gewisses Peinlichkeitspotenzial in sich bergen. Die besten Bilder entstehen durch Wörter, und die schlimmsten auch.

Nicht umsonst gelten für Gesprächssituationen offiziellerer Art gewisse Tabus und gesellschaftlicher Konsens. Das birgt, diese unterlaufend, jede Menge Möglichkeiten mittelpeinlicher (bis großartiger) Gestaltungsszenarien. Wer sich an besagte Normen und Regeln nicht hält, kann viel gewinnen, großen Spaß haben, oder sehr verlieren, mindestens an gutem Ruf. Denn schließlich spricht man nicht von Sex. Es ist ja, nebenbei bemerkt, auch völlig witzlos, darüber zu sprechen. Aber. Es geschieht. Andauernd. Man spricht auch nicht über Religion, Politik und Krankheit. Zumindest nicht bei Tisch, bei Geschäftsessen etwa, zu Gelegenheiten und in Kreisen, wo harmlos-geschmeidiges Plaudern angesagt ist. Das kleine Gespräch, der Small Talk, das Geplänkel soll der Entspannung dienen, unser Wohl- und Sicherheitsgefühl verstärken, nicht irritieren. Deshalb verbieten Anstand und gute Sitten und die gute Kinderstube, die wir genossen, durch ein halbwegs solides Etiketteseminar oder die Schule des Lebens ersetzt haben mögen, uns über unser oder anderer Leute Liebesleben zu verbreiten; gleiches gilt für Gehirntumoren und den Islam und amerikanische Präsidenten und – denken Sie jetzt bloß nicht an einen rosa Elefanten. Vor allem nicht im Zusammenhang mit Sex.

An einem sehr warmen Berliner Sonntag war ich einst im Tierpark Ost. Bei den Elefanten. Ich gehe da gern hin; es beruhigt mich, Elefanten zu betrachten. Ich kann das nur empfehlen. Es sind sehr große, sehr beeindruckende Tiere. Sie sind allerdings auch für Überraschungen gut, zumindest die im Tierpark Ost; ich nehme nicht an, dass ihnen das vom Elefantenpfleger antrainiert wurde. (Obwohl.) Jedenfalls war dem allergrößten – dem allergrößten Elefanten, nicht Elefantenpfleger – an jenem Tag offenbar sehr, sehr heiß. Das Oberhaupt der Herde, jener Oberelefantenbulle, ließ plötzlich alles baumeln, was er so zu bieten hatte. Die Situation war bizarr. Minutenlang bewegte sich niemand. Auch kein Elefant. Die einzige Bewegung war das träge Baumeln, baumlang, weiß gleißend, prall und rosig glänzend, unter dem Elefantenbauch. Fast bis zum Boden. Die Herde war das offenbar gewohnt, die Elefantenkühe blieben ungerührt. Kein Aufruhr im Freigehege. Wir auf der anderen Seite waren wie gebannt. Schweigendes Schwitzen. Dann kam inmitten der bleiernen Hitze Unruhe auf, ein Baby hub zu weinen an. Väter hielten ihren Kindern die Augen zu oder zerrten sie zum Eisstand, Männer lenkten ihre Frauen ab, und wo war ich nochmal stehengeblieben? Am Elefantengehege. Tierpark Ost. Und das war jetzt noch nicht einmal mittelpeinlich.

Sonja Knecht am 19. Mai 2018 bei der TYPO Berlin „Trigger“ im Haus der Kulturen der Welt (Fotos Norman Posselt für Monotype). Das Pult ist leicht überdimensioniert.

Die Elefantengeschichte ist übrigens echt (alles andere auch).

Geht es hier tatsächlich um Sex?

Das Seltsame und Auffällige ist ja, dass verdammt oft über Sex gesprochen oder so getan wird, als werde darüber gesprochen. Es ist aber gar nicht so. Sex ist nur scheinbar präsent. Am Elefantengehege war an jenem Tag mehr Sex als in ganz Restberlin, das können Sie mir glauben; vielleicht lag das an den ausgehungerten, zum Zooausflug verdonnerten Vätern, dass ich das so wahrnahm, aber vor allem hatte es nicht mit irgendeiner absichtsvoll inszenierten Sexhaftigkeit zu tun. Es entstand einfach so. With a little help vom bestens aufgelegten Elefantenbullen. Diesen Moment und die Temperatur und die Stimmung hatte keiner absichtlich hinintendiert. Es war einfach so und es geschah, es fügte sich überraschend und aufs Verblüffendste.

Sex oder sexuelle Anspielungen werden allerdings oft genutzt, um Stimmung zu machen, Werbung zu machen, Angebote (oder Texte) verlockend zu gestalten. Früher war alles besser, und klarer, früher gab es immerhin noch Sexshops. Und die hießen auch so. Also Läden, die explizit Sex verkauften. Oder Ersatzsex oder Sexersatz. Oder genauer, Behelfsmittel und Stimulantien für Sex. Sexshops – schwer auszusprechen übrigens, viel schwerer als Sex, versuchen Sie das dreimal schnell hintereinander, Sexshops, Sexshops, Sexshops – Sexshops sterben aus, wie der gesamte Einzelhandel.

Ist ja alles im Netz heutzutage. Und dann muss man das nicht aussprechen, und überhaupt muss man gar nichts mehr aussprechen. Kann man ja alles haben. Bleiben nämlich die Politik und angrenzende Bereiche, Beruf, Gesellschaft, Medien, in denen Sex meist nichts verloren hat und umso mehr als mindestens sprachliches Mittel zum Zweck dient.

Du kannst alles machen

Das Phänomen Sexistische Kackscheiße wurde in Berlin schon früh erkannt und benannt, wie fast jeder Trend. Ich fand es auf einer fotografierten Plakatwand von 2006, als Aufkleber oder handschriftlichen Kommentar zu Werbekampagnen jüngerer Zeit. Es gibt die Sexistische Kackscheiße in unzähligen typografischen Umsetzungen und sogar eine Rolle zum Abreißen für die Hosentasche kann man sich bestellen, im Internet, für unterwegs, um seinen Weg mit Sexistischer Kackscheiße zu pflastern. Überhaupt spielt sich im Internet einiges ab. Man kann gar nicht oft genug darauf verweisen. Was aber sexistische Kackscheiße ist, liegt im Auge des Betrachters, und der Betrachterin, und jede Erfahrung ist anders. Manche Erfahrungen allerdings ähneln und wiederholen sich. Insbesondere in Verhältnissen, die mit politischem, gesellschaftlichem und beruflichem Kaufen und Verkaufen zu tun haben, mit Machtgefällen und Gefälligkeiten und mit Einflussnahme anderer Art als durch das „reine“ Vertreiben und Erwerben von Produkten. Ein markantes, berühmtgewordenes Beispiel möge uns hier zum Selbstversuch dienen; ich habe es zu diesem Zweck übersetzt. Lesen Sie es langsam und am besten laut:

Ich hab’ echt versucht ihn zu ficken. Er war verheiratet. Ich habe ihn angemacht wie einen Stricher, aber ich kam nicht ran. Und er war verheiratet. Wissen Sie, ich werde automatisch angezogen von Schönheit. Ich küss’ die dann einfach. Ist wie ein Magnet. Einfach küssen. Ich warte noch nicht mal. Und wenn du ein Star bist, lassen sie dich das machen. Du kannst alles machen. Pack sie am Pimmel. Du kannst alles machen.

(I did try and fuck her. She was married. I moved on her like a bitch, but I couldn’t get there. And she was married. You know I’m automatically attracted to beautiful. I just start kissing them. It’s like a magnet. Just kiss. I don’t even wait. And when you’re a star they let you do it. You can do anything. Grab them by the pussy. You can do anything.)

Das Original stammt von Donald J. Trump und wurde im Sommer 2016 publik, er im Herbst desselben Jahres Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika.

Und das ist Scheiße. Eine Riesenscheiße.
Ein Riesenscheißgesamtzusammenhang.

Scheiße

Egal, wie herum, egal, wer gegenüber wem und wer gegen wen und in welche Richtung sich so äußert: Scheiße. Eine Riesenkatastrophe zusätzlich aber ist, wer sich so geäußert hat. Das Schlimmste ist ja nicht der vielzitierte P-Satz. Das Allerschlimmste ist der Satz davor, und danach, der, der wiederholt wird: Du kannst alles machen. Darin eingebettet der P-Satz, und der ist ja nur ein Beispiel. Hier wurde in aller Deutlichkeit gesagt: Du kannst alles machen, wenn du nur die Macht, das Geld, die Position dazu hast. Weil du nicht entmachtet und bestraft wirst für das, was du sagst und für das, was du tust. Überflüssig fast zu sagen, dass es hier nicht um Sexualität geht.

Es geht um ganz anderes und es geht um viel mehr. Das, was sich auf diese Weise massivst ausbreitet, in den USA und nicht nur in den USA, aber massivst seit Mitte November 2016, das ist ja nicht nur sprachlicher Dreck.

Wenn jemand an exponierter Stelle, jemand, der ein öffentliches Amt bekleidet, so sprechen und so etwas sagen darf, ohne in Schimpf und Schande aus dem Amt und überhaupt zum Teufel gejagt zu werden, ohne dass das Auswirkungen auf seine exponierte Stelle hat, dann hat das fatale Folgen. Sofort. Und weitreichend. Wir hören und wir spüren sie überall. Das verselbstständigt, verstärkt und bestätigt sich, wieder und wieder. Wenn ein Wort, ein Satz, etwas Gesagtes da ist, dann ist es auch da, dann ist es in der Welt. Und es hat Wirkung.

Besagte Positionierung war der Paukenschlag für eine Machtergreifung und einen Kampf mittels Sprache sondergleichen. Das einzige Ziel: Machterhalt, Sicherung von Macht, siegen, sich behaupten. Eine solche Selbstinszenierung und Selbstermächtigung, unwidersprochen, manifestiert Möglichkeiten. Das ebnet den Weg für weiteres. Wer die Macht hat, solcherart Dinge zu behaupten, unabhängig auch davon, ob sie stimmen oder nicht, behauptet sich in seiner Macht. Macht sich zum Oberhaupt. Um nichts anderes geht es.

Sonja Knecht am 19. Mai 2018 bei der TYPO Berlin „Trigger“ (Foto Norman Posselt, Monotype). Das Publikum regiert nur zum Teil leicht verschreckt.

These 2: Text ist Information. Immer.

Text ist Information. Fragt sich nur, welcher Art. Da ist ja auch, wie wir gesehen haben, anderes im Spiel. Jede Menge Emotion, oft. Und Funktion, Intention. Da schwingt stets einiges mit, was über den Inhalt hinausgeht.

Die Art und Weise auch, wie ich etwas sage, welche Wörter ich in welchem Ton gegenüber wem in welcher Situation benutze, sagt tatsächlich alles. In erster Linie über mich.

Das, was da abgesondert wurde, vom amtierenden US-amerikanischen Präsidenten wohlgemerkt; das, was der in dieser Funktion klassischerweise als mächtigster Mann der Welt Bezeichnete bei dieser und jeder sich bietenden Gelegenheit von sich gibt, das ist Scheiße. Scheiße in einem umfassenden, grundsätzlichen Sinn. Scheiße in jeder Hinsicht. Auf allen Ebenen. Scheiße mit bleibendem Einfluss, wie wir sehen und feststellen müssen. Scheiße, die ich gar nicht näher ausdifferenzieren möchte oder könnte in sexistisch, rassistisch – das wäre übrigens auch viel zu differenziert. Es würde nicht passen von der Tonalität her. Das ist einfach Scheiße.

Ist Scheiße nur ein Wort?

Dabei ist auch das erstmal nur ein Wort. Ein harmloses kleines Wort; schauen wir uns das doch mal genauer an: Wo kommt es her, wo geht es hin?

Die Scheiße fand 1934 Eingang in den Duden, das Wörterbuch der deutschen Sprache. Zu der Zeit kamen in Deutschland die Nazis an die Macht.

1934 hat Adolf Hitler die Ämter Reichkanzler und Reichspräsident auf sich vereint und sich fortan Führer genannt. Zufall oder nicht: Wörterbücher sind Zeitzeugen.

Das Wort Führer jedenfalls kam nicht von ungefähr zu seiner damals neu erfundenen und bewusst eingesetzten Bedeutung und Funktion.

Wörterbücher sind Zeitzeugen! Die Wörter, die wir verwenden, sprechen für unsere Zeit. Mit der Art, wie wir sprechen, prägen wir unsere Sprache und prägen wir die Zeit, in der wir leben. Die Begriffe, die wir wählen, die Wörter, die wir benutzen, entstehen durch bestimmte Geschehnisse, werden notwendig durch bestimmte und bestimmende, oft neue Sachlagen; sie kommen auf wie neue Moden oder Trends, markieren diese, und umgekehrt: Mit den Wörtern, die wir wählen, bezeichnen und bewerten wir die Dinge und Geschehnisse um uns herum. Der Duden hält das fest und ist somit – wie überhaupt jedes Wörterbuch – Chronist unseres Zeitgeschehens. Mit unserer Sprechhaltung, mit unserem Sprachhandeln gestalten wir Zeitgeschichte.

Die Scheiße erlebt gerade eine Renaissance.

Schauen wir sie uns also genauer an. Was ist das, Scheiße, was bezeichnet es genau? Worttrennung Schei|ße, sagt der Duden, und Synonyme gibt es viele: Aa, Absonderung, (Darm-)Ausscheidung, Dejekt, Exkret, Exkremente, Fäkalien, Fäzes, Haufen, Kacka, Kacke, Kot, Losung, Scheißdreck, Schiet(e), Schiss, Stuhl(-gang). Auch figurativ jede Menge schöner Scheiße: Blödsinn, Bockmist, Dummheit, Elend, Flausen, Humbug, Idiotie, Kacke, Kappes, Käse, Kohl, Kokolores, Larifari, Mätzchen, Mist, Mumpitz, Unfug, Unsinn, Quark, Quatsch, Scheißdreck (derb emotional verstärkend), Schlamassel, Schmarren oder Schmarrn, Schwachsinn, Stuss, Tinnef, Topfen und Zinnober. Kacke oder Scheißdreck etwa ist beides, konkret und figurativ. Nur die Kackscheiße ist noch nicht im Duden verzeichnet. Fügen wir sie also gedanklich hinzu. Sie ist ja längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen.

Auch für das Adjektiv scheiße (kleingeschrieben), laut Duden „salopp abwertend“, stehen jede Menge schöner Alternativen zur Wahl: Da ist etwas ausgesprochen schade, ärgerlich, ätzend, erbärmlich, bedauerlich, beknackt, bescheiden, bescheuert, gar beschissen, blöd, doof, dumm, entsetzlich, fürchterlich, furchtbar, grässlich, grauenhaft, grauenvoll, grauslich; wir fühlen uns hundsmiserabel, kläglich, kümmerlich, lausig, mies, minderwertig, miserabel, saumäßig, schade, schauderhaft, schaurig, scheußlich, schlecht, schrecklich, etwas ist unerfreulich, ungenügend, ungünstig, ungut, unter aller Kanone, unter aller Sau, verheerend und/oder völlig wertlos. Weit über vierzig Synonyme! Ist das nicht wunderschön? Wir können so fein differenzieren im Deutschen! Es muss nicht immer alles scheiße sein. Wie wäre es zur Abwechslung mit „ich fühle mich wirklich hundsmiserabel“, „was für eine lausige Lesung“, „ein scheußlicher Tag“; etwas mag „unter aller Kanone“, wahlweise „… Sau“, oder einfach „grässlich“ sein. Gibt ja Grund genug. Wenn nicht, wären all die schönen Wörter ja nicht da.

Im Englischen geht auch bisschen was: shit, bullshit, holy shit, bollocks, bull, crap, doodoo, fuck, keech, pants, pooh, scat, shiz; Beispielsatz: to be in deep doo-doo (coll.). Doch ist das Deutsche erwartungsgemäß, wie so oft, viel ergiebiger, präziser und nuancierter.

These 3: Sprache ist unser Gestaltungsmittel. Überall.

Wie wir gesehen haben: Text ist gestaltete Sprache. Texten ist, (mit) Sprache gestalten. Wenn wir uns dessen bewusst sind, wenn wir wissen, welchen Wortschatz wir zur Verfügung haben und was wir damit machen können, gewinnen wir unzählige Möglichkeiten. Eine klare Sprechhaltung und ein wenig Handwerkszeug in Sachen Text genügen, ein bisschen kommunikatives Geschick und Übung, bewusstes Ausprobieren vielleicht, und wir stellen fest: Wir können mit Sprache etwas bewirken.

Menschen treffen Aussagen und bestimmen Informationsgehalte, wir alle, ständig. Politiker und Firmenchefs haben das längst begriffen. Es gilt für jeden von uns, in jeder Lebenslage. Beruflich wie privat sind wir ständig auf Sendung. In der Art und Weise, wie ich abends in der Kneipe mein Bier bestelle, gestalte ich diese Situation und meine kommunikative Wirkung im Umfeld. Ich entscheide, welchen Eindruck ich mache, und habe Einfluss auf die Lebenswirklichkeit des Barkeepers, auf die Stimmung der umstehenden Gäste, und nicht zuletzt auf mich selbst – mindestens in der Resonanz, die ich erfahre. Ich beeinflusse die Art und Weise, wie ich wirke und wahrgenommen werde. Es ist ein Riesenunterschied, ob ich im Reinkommen „ey, Bier“ in Richtung Bar brülle oder auf Augenkontakt warte und beispielsweise sage, „kann ich bitte ein Bier haben“. Oder eine der unzähligen anderen Möglichkeiten wähle, mimisch-gestisch-sprachlich, um zu meinem Getränk zu kommen. Ich gestalte die Situation, und meine Sprache hat daran einen wesentlichen Anteil. Sprache ist unser Material dafür, unser Werkstoff, unser allgegenwärtiges Ausdrucksmittel. Mit Wörtern gestalten wir unser Leben, unsere Welt, jede Begegnung, jeden Tag. Alles.

Umgekehrt gilt das natürlich auch. Permanent sind wir auch Sprachempfänger und wohl jeder von uns mag sich bleibend an wunderschöne Worte erinnern, musste aber auch schon zutiefst bestürzende Nachrichten vernehmen, einen Satz, der Trauer oder Schock ausgelöst hat, ein Wort oder Unwort, das hart getroffen hat. Wie könnten wir es vergessen. Wörter wirken. Was einmal gesagt wurde, das hat Bestand. Was wir einmal gehört oder gelesen haben, das registrieren wir, das bleibt in uns. Mehr oder weniger bewusst. Bei Wiederholung umso mehr.

Deswegen ist es so wichtig, auf unsere Sprache zu achten, und auf die Sprache derer, die um uns sind. Was wollen sie uns sagen? Was wollen wir sagen, wie wollen wir wirken und was wollen wir bewirken? Wir haben es in der Hand.

Sonja Knecht am 19. Mai 2018 bei der TYPO Berlin „Trigger“ im Haus der Kulturen der Welt (Foto Norman Posselt für Monotype).

Wir haben unsere Sprache(n) und wir brauchen keine Angst haben, dass uns die Worte fehlen. Es sind genug davon da. Wörter sind unsere Freunde. Sie sind da, wenn wir sie brauchen. Wir können unsere Worte wählen. Und wenn uns mal eines fehlt, dann nehmen wir halt ein anderes. Dann gestalten wir unseren Satz, unser Gestammel, nötigenfalls, darum herum. Die besten Texte entstehen in größter Not, wie auch immer, aber sie entstehen, wir schaffen das. Es gelingt uns. Wir finden Worte, und dann sind es auch die richtigen. Wir merken es daran, wie es uns damit geht, und wir merken es an der Resonanz – Text wirkt. Ich belege es an anderer Stelle ausführlich: Gerade in der größten Not bleibt immer etwas zu sagen, zu schreiben, und sei es, dass alles scheiße ist, und dann schaut man das Wort sich an und denkt, was für ein schönes Wort; das habe ich, und das ist meine Sprache, und schon ist alles nicht mehr ganz so schlimm. Denn ich kann es benennen, immerhin, und damit kann ich es bannen. Ich kann begrifflich machen und begreifen, was geschieht, und ich kann das mitteilen. Mich mitteilen. Mit anderen teilen. 

In Quintessenz: Text ist gestaltete Sprache.
Auf Englisch: text is language, designed.

Texten ist, (mit) Sprache gestalten. Machen wir uns das bewusst, immer wieder. Lasst uns das nutzen, zum Guten, zu unserem Besten. Gegen Unworte können wir uns verwehren. Wir entscheiden, immer wieder neu, was wir mit Sprache machen. Wir entscheiden, ob wir mit unserer Sprache etwa Macht, Manipulation und Marketing ausüben wollen – oder Schönheit, Sinn und Magie verströmen.

Und jetzt schnell wieder an den rosa Elefanten denken.

Edition Onepage, Ausgabe 17 vom Mai 2019 (fotografiert von Ingo Rasp).

Die Schriften: Lotti von Christine Hager und Seltsam von Igor Labudovic. Vielen Dank an Christine Hager für das extra für uns gestaltete Versaleszett! Verwendet in der Zwischenüberschrift, im Bild links unten.

Für die Gestaltung jeder Onepage kommen drei Menschen zusammen: jemand für den Text, jemand für Grafikdesign und Satz, jemand für die Lyrik. Das Gedicht stimmt in unserem Fall von Arne Seidel aka Ahne aus Berlin.

Die Onepage kann – und nicht nur dieses Ausgabe lohnt sich – bestellt oder prophylaktisch abonniert werden. Das Besondere, unter anderem: Die Beteiligten haben gestalterische Freiheit und werden fair entlohnt. Trotzdem kostet die Plakatzeitschrift nur 10 CHF pro Exemplar.

Diese Onepage wurde gedruckt von BVS Druck + Verlag AG, Schaan, auf 120 g/qm Funken Polar Rough hochweiß FSC. Produktionssteuerung und Supervision übernahm, ebenso wie die (typo-)grafische Gesamtgestaltung, Martin Tiefenthaler, bei dem ich mich allerherzlichst bedanke.

Mein Essay „Text Sex, Scheiße“ basiert (in Teilen) auf meinem Grundsatzvortrag „Text, Sex, Scheiße“ (48 min), den ich am 19. Mai 2018 auf der TYPO Berlin gehalten habe, und erschien im Mai 2019 als Ausgabe Nr. 17 der Edition Onepage. Die Fotos „meiner“ Onepage stammen von Ingo Rasp, die Fotos auf der TYPO Berlin von Norman Posselt (für Monotype), vielen Dank!

Die Plakatzeitschrift Onepage kann – und nicht nur Ausgabe 17 lohnt sich – bestellt oder prophylaktisch abonniert werden. Bis auf das einheitliche Format ist jede Ausgabe anders; die Beteiligten haben gestalterische Freiheit, werden fair entlohnt, trotzdem kostet die Edition nur 10 CHF pro Exemplar: ein wunderbares Projekt und eine editorische, gestalterische und unternehmerische Glanzleistung von Herausgeberin Doris Büchel, Liechtenstein. Lieben Dank an sie sowie an meinen Gestalterkollegen und Freund Martin Tiefenthaler für seine unerschütterliche Gründlichkeit (dass du immer sofort verstehst, was ich meine), an Ahne für die Gedichtauswahl (war nicht leicht für uns) – und an dieser Stelle nochmals ein großes Dankeschön an Marc Weymann, London, der mich mit Doris Büchel bekannt gemacht und mich ihr als Autorin empfohlen hat.

Zur kürzeren englischen Version dieses Essays geht es hier.

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